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Ilias Venesis

 

Äolische Erde

 

Aus dem Neugriechischen übertragen von Roland Hampe

 

 

ERSTER TEIL. UMWELT

 

1

 

Als die Wasser des Ägäischen Meeres sich teilten und die Berge von Lesbos aus der Tiefe aufzusteigen begannen, feucht, glänzend und still, da sahen die Wogen überrascht die Insel, ihren neuen Freund. Sie waren gewohnt, au s den Zonen des Kretischen Meeres herüberzuwandern und an den Küsten Anatoliens zu vergehen, und was sie vom Festland kannten, waren harte Berge, gewaltige, schroffe Felsen, Land aus gelbem Stein. Dies Land hier aber, mit der neuen Insel, war etwas anderes - o wie Verschiedenes! Drum sagten die Wogen: Laßt uns gehen und laßt uns die Botschaft bringen dem nächsten Lande von hier, dem Land der Äolis. Laßt uns ihm von der Insel erzählen, dem neuen Land, das das Licht mit der friedlichen Stille verband, von ihrem Umriß und ihrem Rhythmus, der so sanft ist, als trage er das Schweigen in sich. Laßt uns ihm erzählen von dem Wunder des Ägäischen Meeres. Und die Wogen kamen und brachten die Botschaft des Meeres an die äolische Küste. Es kamen immer neue und wieder neue Wogen, alle Wogen, und alle sprachen sie von dem Kunstwerk dieser Insel, von dem Kleinod der Harmonie und des Schweigens. Am ersten Tage hörten das die harten Berge des Morgenlandes und blieben gleichgültig. Sie hörten es am nächsten Tage, und wieder rührte es sie nicht. Als aber das Übel zu groß ward und sie keinen Augenblick etwas anderes hörten als die Stimme des Meeres, die ihnen von dem Wunder berichtete, da verloren die Berge ihre reglose Ruhe und neigten sich neugierig über die Wogen, um die Insel im Ägäischen Meer zu sehen. Sie waren neidisch auf ihre Harmonie und sagten: „Laßt auch uns einen Platz schaffen auf der Erde der Äolis, der so friedlich und so still ist wie die Insel!“

Da teilten sich die Berge, zogen sich in die Tiefe zurück, und die Landschaft, die sie zurückließen, wurde eine Gegend friedlicher Stille. Jene Berge Anatoliens heißen Kimindenia.

Meine Vorfahren hatten harte Arbeit mit der Erde, die unter den Kimindenia liegt. Als ich geboren wurde, gehörte ein großer Teil jener Gegend unserer Familie. Im Winter wohnten wir in der Stadt, aber kaum daß der Schnee auf den Kimindenia wegschmolz und die Erde grün wurde, nahm uns unsere Mutter, alle meine Geschwister - die Anthippi, die Agapi, die Artemis, die Lena und mich - und wir zogen hinaus, um die Sommermonate auf dem Gute zu verbringen bei unserem Großvater und der Großmutter.

Das Meer war von dort weit entfernt. Das war für mich anfangs ein großer Kummer, da ich am Meer geboren war. In der Ruhe der Landschaft erinnerte ich mich an die Wellen, die Muscheln und die Quallen, den Geruch des modrigen Tangs und an die Segel, die dahinzogen. Ich konnte das nicht ausdrücken, da ich noch sehr klein war. Aber eines Tages fand meine Mutter den Knaben, wie er mit dem Gesicht am Boden lag, als wolle er die Erde küssen. Der Knabe rührte sich nicht, und als die Mutter erschreckt nahekam und ihn aufhob, sah sie seine Augen von Tränen angefüllt. Sie fragte ihn überrascht, was er habe. Er aber wußte nicht, was er antworten sollte, und sagte nichts. Aber eine Mutter ist das tiefste Geschöpf auf dieser Welt, und meine eigene verstand wohl, was mir fehlte, nahm mich seit jenem Tage oftmals mit, und wir stiegen hoch hinauf an den Kimindenia, von wo aus ich das Meer erblicken konnte, und während ich versunken war in die ferne Magie des Meeres, sprach sie nicht mit mir, damit ich spüren sollte, daß wir allein seien, das Meer und ich. So verging eine Weile, bis meine Augen müde wurden vom Schauen und sich senkten und auch ich mich zur Erde niederließ. Da wurden die Bäume um mich her zu Schiffen mit hohen Masten, die Blätter, die sich regten, wurden zu Segeln, der Wind wühlte den Boden auf und machte ihn zu hohen Wogen, die kleinen Grillen und die Vögel wurden Goldfische, die dahinschwammen, und ich mit ihnen.

Als ich erwachte, sah ich über mir die Augen meiner Mutter, die auf mich warteten.

„War es schön, Bub?“ fragte sie mich mit süßem Lächeln.

„Ach, Mutter, das Meer ist immer so schön!“

An einem jener Sommertage, als ich mit meiner Mutter von jener ‚Seereise auf den Kimindenia‘ zurückkam, standen wir im Bette eines kleinen Baches.

Es war mit reinem Sand gefüllt; indessen lief auch etwas Wasser.

„Wie kommt es, daß hier Wasser läuft“, sagte ich, „wo es doch Sommer ist und von den Kimindenia kein Wasser herabkommt?“

„Komm“, sagte meine Mutter, die ihre ganzen Kinderjahre auf den Kimindenia zugebracht hatte und die Gegend gut kannte. „Komm und sieh!“

Wir gingen im Bach aufwärts, tief bis in die Talmulde hinein. Da fanden wir in einer Höhlung die Quelle, aus der das Wasser sprudelte. Es war sehr kühl dort; trotzdem wuchs kein Moos, standen dort auch keine Platanen, wie es an einem so feuchten Orte zu erwarten war.

„Versuch das Wasser“, sagte meine Mutter zu mir. „Versuch mal, wie kühl es ist.“

Ich schöpfte mit meiner Hand von dem Wasser und brachte es an meine Lippen. Aber sie hatten es kaum berührt, da schüttete ich es wieder weg und wischte mir die Zunge ab.

„Aber das ist ja Meerwasser“, sagte ich erstaunt.

Meine Mutter lachte sehr herzlich, nahm mich in die Arme und sagte: „Siehst du? Das Meer ist überall!“

Und als wir später heimwärts gingen, wurde sie ernst und erklärte mir, daß die ganze Gegend unterhalb der Kimindenia einstmals sehr schlechter Boden war, da das Meer bis tief hinein im Boden lebte, tief eingedrungen war und daß es von Geschlecht zu Geschlecht unaufhörlicher Mühe meiner bescheidenen Vorfahren bedurfte, bis das Meerwasser verschwand und Bäume und Reben wachsen konnten.

Zur Zeit meines Großvaters, des Vaters meiner Mutter, war die Erde schon fertig, und damals entstand der Gutshof. Von meiner Mutter erfuhr ich, wie die erste Hütte errichtet wurde, wann meine Großmutter mit ihren Händen die erste Platane im Hof setzte, wann man die Reben pflanzte. In den Gutshof trat man durch ein großes Tor, das mit einem geschnitzten Holzbalken überwölbt war und in den Hof führte. Rings um den Hof waren die Gebäude, eines neben das andere gebaut. In den unteren Stockwerken waren die Lagerräume und die Stallungen, in den oberen die Wohnung des Großvaters und der Großmutter, daneben das Fremdenhaus und daneben die Unterkünfte für die Arbeiterinnen und die Landarbeiter, die das ganze Jahr über auf dem Gut arbeiteten. Eine Holztreppe führte vom Hof zur Wohnung des Großvaters, und dort begann eine hölzerne Galerie, die ringsum lief und alle Gebäude miteinander verband. Die Fenster schauten alle nach dem Hofe, und nur das Haus des Großvaters hatte ein eisenvergittertes Fenster, das nach draußen blickte, auf die Welt außerhalb des großen Tores. So glich der Gutshof einem Kloster oder einer Burg, ganz gebaut aus festem Stein des Sarmusak, aus Furcht vor den Räubern. Doch hatte er nichts von der asketischen Strenge der Klöster, noch von der Wildheit einer Burg; er war mit himmelblauer Farbe angestrichen. In einem besonderen Zimmer wurden, eingeschlossen wie wertvolle Dinge, die Waffen aufbewahrt, die Gewehre und Büchsen und Säbel. Sie reichten aus, um alle Arbeiter in der Stunde der Gefahr bei einem räuberischen Angriff zu bewaffnen. Dies Zimmer nannten wir das „Gelbe“, weil es mit kräftiger gelber Farbe gestrichen war. Unser Zimmer, das der Kinder, war neben den Waffen, und ihre Nachbarschaft gab uns viel zu denken. Und da das Gelbe immer verschlossen war, und niemand das Recht hatte es aufzumachen außer dem Großvater, gab ihm unsere Phantasie große Ausmaße, machte es zu einem geheimen Unterschlupf von Fabelwesen.

In den tiefen Nächten, wenn es draußen still ward, wenn die Schakale nicht mehr heulten und nur die Blätter an den Bäumen sich noch regten, dann war es uns, als komme jedes andere noch so leise Geräusch, das uns erreichte, aus dem verbotenen Zimmer. Dann weckte ein Kind das andere auf.

„Hast du gehört?“ sagte die kleine Artemis und stieß mich an. Erschreckt wachte ich auf und fragte:

 „Was ist los?“

„Horch! Nebenan ist etwas los im Gelben.“

Ich lenkte meine ganze Aufmerksamkeit dorthin und lauschte gespannt. Die Erde ruht aus und befruchtet die Samen, und von ihrer heimlichen Arbeit entsteht ein ganz leises Geräusch, das nur eines Kindes Ohr erreicht. Die Wurzeln der Bäume regen sich im Dunkeln und suchen Wasser zum Trinken, die Rinden der Stämme regen sich, um die Säfte in die Zweige und Blätter zu treiben, die blinden Würmer kämpfen einsam ihren kleinen Kampf. Ein wildes Tier streicht vorüber und verschwindet wieder, ein anderes, gejagt von einem größeren Raubtier, kann den Wald nicht mehr erreichen, um sich zu retten, und fernhin hört man seine zerreißende Stimme, die Stimme des Todes. Dann wird alles still, und es kommt das große Schweigen.

„Horch!“ sagte Artemis wieder, als es ruhig wurde.

„Das war nur ein Schakal, der vorbeilief“, sagte ich ihr.

„Nicht doch! Nicht der Schakal! Horch! Jetzt, jetzt! Da drin! Hör doch!“

Ich spitzte meine Ohren und machte meine Augen auf, so weit ich konnte. Mein Herz schlug lebhaft, weil ich den Zwang fühlte auch zu hören, was sie hören konnte.

„Ach“, sagte ich schließlich enttäuscht, „ich höre nichts! Nur die Blätter.“

„Ärmster! Die Blätter? Was redest du von Blättern!..“

sagte ihre Stimme im Dunkeln, und ich wußte, daß ihre Augen von Verachtung leuchteten.

„So klein also bist du noch?“

Ich war sechs Jahre alt und sie gerade Ende acht. Das wurmte mich sehr, und ich war drauf und dran zu weinen über mein Unglück und wegen des Kummers, weil Artemis ein Mädchen war, und ein Mädchen sollte doch nicht mehr wissen als ein Junge. Doch nun war es einmal so - viel Unrecht herrschte auf der Welt.

„Du redest daher, was dir einfällt!“ sagte ich ihr schließlich wütend.

„Du hörst die Blätter an den Bäumen und glaubst, es sei im Gelben.“

„Du Ärmster! Ich sage, was mir einfällt?“ beteuerte Artemis.

„Erinnerst du dich nicht, wie du neulich selbst gehört hast, wie die Schwerter im Gelben herumliefen und mit den Pistolen sprachen? Hör nur, ich sage, was mir einfallt!“

Artemis hatte recht. Neulich, da blies ein starker Wind, spät nach Mitternacht, und der ganze Gutshof bebte. Von der Höhe, von den Kimindenia kam das Klagelied der Bäume, die mit dem Winde rangen. Weder die Schakale hatten es gewagt, an jenem Abend aus ihrem Unterschlupf herauszukommen, noch die anderen Tiere. Keine Stimme Heß sich hören. Da vernahmen wir ein seltsames Geräusch, das aus dem Gelben kam, und wir beide, die Artemis und ich, waren uns darin einig, daß die Schwerter sprachen. Weshalb sollte ich es also jetzt nicht glauben?

„Du schläfst immer, das ist es!“ folgerte Artemis, um meine Unfähigkeit zu erklären. „Ich aber halte mich wach und habe mich daran gewöhnt, daß mein Ohr...“

„Schon gut, schon gut“, sagte ich wieder. „Du weißt ja alles! Setz dich also auf und halte Wache im Dunkeln.“

Ich drehte mich in meinem kleinen Bette um und wickelte mich ins Leintuch. Aber im gleichen Augenblick kam ein klares, ein ganz klares Geräusch, ein Tick-Tick, durch die Nacht vom Gelben her.

„Hast du es endlich gehört?“ flüsterte mir im Dunkeln die Stimme der Artemis zu, und ich glaubte, daß sie zitterte.

„Hast du’s gehört?“

„Ach, ich hab‘s gehört!“ murmelte auch ich voll Unruhe.

„Was mag es sein?“

„Die Schwerter wachen auf“, sagte sie.

Aber da wachte auch die Anthippi auf: sie war unsere älteste Schwester, zwölf Jahre alt und unsere zweite Mutter. Immer erzählten wir ihr unsere Geheimnisse.

„Was habt ihr?“ fragte sie leise.

„Anthippi, horch!“ sagte Artemis, und ihre Stimme klang wie flehend. „Die Schwerter sind aufgewacht im Gelben!“

Anthippi hörte hin und sagte dann seelenruhig:

„Mäuse sind es, macht keinen solchen Lärm und schlaft.“

Wir hörten, wie sie sich auf die andere Seite drehte, um wieder einzuschlafen, als ob nichts geschehen wäre. Auch ich zog meine Decke über den Kopf, aber die Augen wollten sich nicht schließen. Die Geräusche vom Wald, von der Erde, vom Wild, flössen ineinander, wurden eine fremdartige Musik, die von den Märchen und den Träumen erzählte, von den Reisen der Kinder berichtete, wie sie auf Goldfischen reiten oder wie sie die Prinzessin finden mit dem weißen Kleid und mit den silbernen Haaren und mit dem Großen Riesen, der ihre Türe bewacht. Die Schwerter und Pistolen in der gelben Kammer waren keine wilden Wesen mehr, sie waren nur aufgewacht, weil sie neidisch waren, auch sie wollten auf den Goldfischen reiten und nicht mehr einsam eingeschlossen sein. Sie öffneten leise die Türe ihres Verlieses, streckten die Hände aus und wußten, wenn es auch kein Goldfisch war, der auf sie wartete, um sie mitzunehmen, so doch ein kleiner schöner Delphin. Und während die Goldfische ihre Reise begannen, durch die Luft fliegend, ertönte hinter ihnen die Stimme der Schwerter, über dem Delphin, und flehte:

„Wartet auch auf uns, wartet auch auf uns, bis wir zur Prinzessin kommen.“

„Kommt nur“, sagte freundlich der kleine Junge auf dem Goldfisch. „Kommt nur, wir werden auf euch warten.“

Am anderen Morgen fragte mich Anthippi: „Wen hast du in der Nacht erwartet?“

„Ich, erwartet?“

„Ja doch, du hast doch jemanden im Schlaf gerufen.“

Ich konnte mich nicht daran erinnern, und ich sagte ihr, es müsse ein Traum gewesen sein.

 

2

 

Mein Großvater war ein groß gebauter Mann, voller Gesundheit trotz seiner siebzig Jahre, und hatte ein edles Herz. Sein ganzes Leben lang hatte er in den Kimindeniabergen zugebracht, ein hartes Leben, bis er den Hof bauen konnte. Dennoch war von jenem schweren Leben außer den tiefen Furchen in seinem Gesichte keine Spur zu sehen. In seinen blauen Augen herrschte kindliche Rechtschaffenheit, und wenn er lachte, strahlte auf seinen Lippen die Güte der Welt. Einem treuen Aufseher hatte er die Verwaltung des Gutes übertragen. Darum konnte er den ganzen Tag über seine teuren Kleider tragen, die aus festem Tuch nach der strengsten Überlieferung der Volkstracht dort gefertigt waren. Er hielt mit unbeschreiblicher Sorgfalt auf seinen Anzug, und ich erinnere mich nicht, ihn alle die Sommer hindurch, die wir auf dem Gute lebten, je ungepflegt gesehen zu haben. Lesen und Schreiben konnte er gar nicht, darum half ihm bei den Rechnungen seine treue Gefährtin, meine Großmutter. Es scheint, daß alle Großmütter ein zärtliches Wesen haben, aber die meinige hatte das süßeste und sanfteste Gesicht von allen Großmüttern der Welt. Sie hatte mit dem Großvater alle die bitteren und schweren Zeiten des Lebens durchgemacht, sah an seiner Seite, wie von Jahr zu Jahr die Kinder heranwuchsen, die Enkel, die Bäume, die Reben. Ein großer Teil dieser Arbeit war ihr Werk. Gleichwohl blieb bis in ihr hohes Alter ihr Verhältnis zum Großvater das gleiche wie in ihren Jugendjahren.

„Dem Großvater verdanken wir all das“, sagte sie uns und zeigte ringsumher mit einer Bewegung, die zugleich die Erde, die Bäume und uns umfaßte.

Und wenn der Großvater hereinkam, dann ließ sie sich‘s nicht nehmen, sich immer zuerst zu erheben, um ihn zu empfangen, stets aufrecht stehend, nicht nur damit wir lernen sollten ihn zu ehren, sondern weil sie es für ihre eigene Pflicht erachtete. Dann, wenn die Großmutter aufstand, standen auch wir Kinder alle auf, meine Geschwister und ich, liefen hin und küßten dem Großvater die Hände und streichelten ihm die Beine, bis zu den Knien, soweit wir eben reichten. Und jener schritt mit Mühe durch uns hindurch, als ob er sich durch Wellen seinen Weg bahnen müsse, und ging zu der Stelle, wo die Großmutter aufrecht im Hintergrunde stand.

„Nimm Platz, Despina“, sagte er ihr und strich ihr sanft über die Schultern, während auf seinem Antlitz die Freude eines Menschen widerstrahlte, der sich in seinem Leben nützlich erwiesen hatte und nicht umsonst auf dieser Erde war. An den Sommertagen, wenn es gegen Abend ging, setzten die beiden sich immer alleine unter die Eiche draußen vorm großen Tor am Eingang des Gehöftes. Dort befand sich eine kleine Bank, für zwei Leute gerade breit genug. Dort saßen sie. Sie sprachen miteinander in langen Abständen, mit großen Pausen, geeint durch die gemeinsamen Erinnerungen, und ihre Augen senkten sich nur selten: sie blieben erhoben, aber ohne die Unersättlichkeit der Jugend, hafteten tief und still auf den Wolken, den Bäumen, den Kimindenia. Dann, ganz langsam, mit Bedacht, stiegen die Erinnerungen aus der Vergangenheit herauf. Er sagte: „Erinnerst du dich noch an damals, als unser erstes Kind zur Welt kam? Es war im Jahr der Überschwemmung.“

„Und ob ich mich erinnere, Jannakos!“

Sie blieben eine gute Weile schweigend. Da wechselte der Lufthauch, der über ihnen säuselte, seine Gestalt, wurde ein starker Wind, die weißen Wolken, die dahinzogen, wurden schwarze, riesige Gebirge, welche die Erde unterhalb der Kimindenia bedeckten, es wurde Nacht, und der Sturm wütete. Es regnete, regnete unaufhörlich, während in dem kleinen Zimmer, wo ein Kaminfeuer brannte, eine junge Frau dumpf und leise stöhnte, im Begriff, ein Kind zur Welt zu bringen. Um sie herum standen zwei, drei Frauen von denen, die auf dem Gut arbeiteten, während ihr starker, unbeugsamer Mann draußen vor der Türe mit großen, unruhigen Schritten auf und ab ging. Die Nacht wurde immer dunkler, und der Sturm wurde immer stärker. Da erschien in heller Aufregung ein Mann, vom Regen ganz durchnäßt, mit verstörtem Blick.

„Der Fluß läuft über!“ rief er. „Er wird uns verschlingen!“

Der Mann der jungen Frau wollte hinauseilen, alle Leute zusammenrufen, um die Erde - all ihren Schweiß - zu schützen, aber im letzten Augenblick hielt er inne. Wie konnte er fortgehen und seine Frau alleine lassen, die da drinnen in Gefahr war in Erwartung seines Sohnes... ja, seines Sohnes!

„Geht ihr!“ sagte er schließlich entschlossen zu den Leuten und gab ihnen Weisungen, wie sie das Wasser aufhalten sollten.

„Ich bleibe!“

Aber seine Gefährtin hatte verstanden, was sich abspielte. Sie verbiß sich ihren Schmerz mit den Zähnen, gab sich furchtbare Mühe, ruhig zu erscheinen, und Keß ihren Mann hereinrufen.

„Jannakos“, sagte sie süß zu ihm, „bei mir dauert es noch. Meine Stunde ist noch nicht da. Was gibt es draußen?“

„Nichts“, sagte er. „Etwas Wasser kommt herab.“

„Geh, Jannakos“, sagte sie ihm still und überzeugend. „Wenn du etwas zu tun hast, geh! Bei mir dauert es noch.“

Und da jener noch zauderte:

„In Gottes Namen“, flehte sie ihn an, „die Erde, unsere Erde!“

Ihr Mann ließ sich überreden, ging, arbeitete die ganze Nacht durch schwer mit seinen Leuten, sie hoben Gräben aus, leiteten das Wasser ab. Am Morgen, als er heimkam und gerade das Zimmer seiner Frau betreten wollte, fiel ihm auf, daß es so seltsam ruhig drinnen war. Er öffnete mit einem Ruck die Türe. Da stießen alle Bäuerinnen, die herumstanden, einen Schrei aus, dann senkten sie alle ihre Augen, in banger Erwartung, was nun geschehen würde. Die junge Frau schaute ihn, reglos auf ihrem Bette liegend, einmal ekstatisch an, dann drehte sie ihr Antlitz, das vom Schmerz gezeichnet war, zu dem Kindchen, das zu ihrer Seite eingewickelt ruhte.

„Verzeih mir“, flüsterte sie ihm demütig zu. „Es ist ein Mädchen.“

Da verstand der Mann. Er lief hinzu, beugte sich über die junge Frau und streichelte ihr das Gesicht. Seine Augenlider zuckten vor Erregung.

„Darf ich es sehen?“ sagte er nur, als bitte er um Erlaubnis. Die junge Mutter deckte das Kindchen auf, das eben erst zur Welt gekommen war. Der Mann bückte sich auf das formlose schwarze Bündel hinab, blieb so eine Weile und sprang dann plötzlich auf.

„Geht hinaus und sagt, man soll das weiße Rind schlachten!“ rief er mit Donnerstimme den Frauen zu. „Gebt zu essen und zu trinken allen Arbeitern und allen Wanderern, die des Weges kommen! Sagt ihnen, daß mir eine Tochter geboren wurde.“

Und während die junge Mutter seine Hände suchte, um sie zu küssen, begann sie leise zu weinen aus Dankbarkeit gegen den Mann, der so gut sein konnte, und er schenkte dem Kindchen - meiner Mutter - die erste elterliche Liebe, deckte es behutsam zu, so wie er sie späterhin sein ganzes Leben durch behüten sollte.

„Und die Erde?“ murmelte sie leise in ihrem Schluchzen.

„Alles, alles ist gut gegangen! Sei nur ruhig“, antwortete er. „Siehst du, Despina, siehst du, wie das Leben vergeht!“ sagte leise der Großvater, aus der Versenkung der vergangenen Zeit auftauchend, während er mit seiner Hand die Hand der Großmutter leicht berührte.

„Ja, Jannakos, das Leben an deiner Seite war schön“, flüsterte sie. „Du warst meine Krone und meine Freude.“

„Laß das, laß das jetzt“, sagte er, indem er sie tief beglückt anlächelte. „Du hast mir mehr geholfen. Ich bin dir schuldig...“

Dann nach einer Weile: „Wie gut, daß uns Gott zuerst nur Mädchen gegeben hat“, sagte er. „So warst du nicht so allein und ohne Hilfe in der Einsamkeit.“

Wieder nach einer Weile: „Was geschah in dem Jahr, wo unser zweites Kind, die Urania, zur Welt kam?“ sagte er, indem er sich Mühe gab, sich zu erinnern, mit welchem Ereignis auf dem Gute dieses Kind verknüpft war, da nur so die Zeitrechnung für ihn einen Sinn bekam, im Zusammenhang mit der Geschichte seiner Erde.

„Erinnerst du dich denn wirklich nicht?“ fragte die Großmutter verwundert. „Es war in dem Jahr, wo die Bäume verdorrten. Damals als der Lasos zu uns kam...“

„Ach ja! Damals als der Lasos kam! Wie konnte ich das vergessen!“

Es war, als ob er sich an etwas erinnerte, dann fragte er sie lächelnd: „Komm, sag mir jetzt, hast du dich damals sehr gefürchtet?“

„Aber erinnerst du dich denn nicht? Ich habe es ja erst erfahren, als es vorüber war“, sagte sie. „Und nachher hab ich keine Angst gehabt um mich, nein, nur um dich.“

Der Lasos war ein furchtbarer türkischer Räuber - in den früheren Jahren der Schrecken jener ganzen Gegend von Pergamon und darüber hinaus, von Kirkagatsch bis hinüber zum Adramyttischen Golf. Er stand im Ruf eines unglaublich harten und blutgierigen Menschen, ohne Mitleid, weder für sein eigenes Volk noch für die Christenmenschen. „Ungläubiger“ nannten ihn alle, da sie wußten, daß Gott in ein solches Ungeheuer keinen Glauben einsenken würde.

Damals, eines Mittags, während sich die Arbeiter unter den Ölbäumen ausruhten und der Großvater - damals noch ein junger Bursch - mit ihnen, sahen sie von fernher einen Hirten der umliegenden Berge auf sie zulaufen, der immer rief: „Wo ist der Jannakos Bibelas? Wo ist der Jannakos Bibelas?“

Sie machten ihm Zeichen, er solle herankommen, und als er zu ihnen trat, sahen sie einen Menschen, der bleich war von Furcht und, da er stark gelaufen war, vom Schweiße troff. „Herr“, sagte er zum Großvater, „Herr, der Lasos!“

„Sprich, Mensch, was ist los?“ sagte jener, indem er sich Mühe gab, vor seinen Leuten von der grauenhaften Nachricht ungerührt zu scheinen.

Der Hirte erzählte dann in Eile, wie er auf einer Höhe auf den Kimindenia gesessen hatte, auf seine Schafe achtend, und wie da plötzlich vor ihm an die fünfzehn Männer aufgetaucht seien, mit Barten, mit wilden Augen, mit gekreuzten Patronengurten, mit Büchsen in den Händen. Als sie ihn hartnäckig ausgeforscht hatten, wieviel Leute im Gutshof des Bibelas wohnten, wieviel Waffen sie hätten, wieviel Tiere und was sich an sonstigen Gütern dort befinde, ob in diesen Tagen auf den Bergen umher Berittene von der Regierung oder dergleichen erschienen wären, da sagte der eine Räuber, der ihr Anführer zu sein schien: „Nimm das und lauf zum Jannakos Bibelas! Sag ihm, daß der Lasos schickt, und daß der Lasos heut abend in seinem Hof einkehrt, und daß er fünfhundert Goldstücke herrichten soll! Er soll einen Mann mit dir zurückschicken, um mich abzuholen. Wir warten hier!“

Und er gab dem Hirten das Zeichen, das dem Großvater eine furchtbare Vorankündigung war: ein rotes Tuch, in dessen eines Ende er eine Patrone einwickelte und einband, nachdem er vorher fest auf sie gebissen hatte. So berichtete der Hirte.

Der Aufruhr, der bei diesen Worten unter den Arbeitern entstand, war unbeschreiblich. Die einen wollten sofort davonlaufen und versuchen bis zum Meer zu kommen, um sich dort irgendwo zu verstecken, die anderen sagten, man müsse sich bewaffnen und dem Räuber und seiner Bande Widerstand leisten und sofort einen Mann nach Dikeli schicken, um Hilfe anzufordern. Jeder sagte etwas anderes.

„Wir haben auch Frauen im Hof. Was soll aus ihnen werden?“

erinnerte da einer.

„Und die Frau der Herrschaft in dem Zustand, in dem sie sich befindet... wie soll das werden“, sagte ein anderer, indem er daran erinnerte, daß gestern erst die junge Frau ihr zweites Mädchen, die Urania, zur Welt gebracht hatte, und daß ihr Zustand schlimm war.

Da erhob der Großvater, der die ganze Zeit über geschwiegen hatte, einerseits um Zeit zu finden, nachzudenken und einen richtigen Entschluß zu fassen, andererseits um vor seinen Leuten keine Mutlosigkeit zu zeigen, da erhob er seine Augen, ließ sie einmal im Kreise herumgehen, jeden Arbeiter einzeln anblickend, und sagte dann, sich zu dem Hirten wendend, mit entschlossenem Ton:

„Du gehst zurück mit einem Mann von mir. Du sagst dem Lasos, daß im Haus des Jannakos Bibelas jeder Wanderer Speise und einen Platz zum Schlafen findet. Also, wenn er will, ist er willkommen. Was die fünfhundert Goldstücke angeht, so habe ich die Summe, die er fordert, nicht. Ich kann nur hundert schicken. Und die schicke ich ihm mit meinem Mann. Mehr habe ich nicht.“

So geschah es auch. Der Hirte brach mit dem Aufseher des Gutes auf. Die Sonne neigte sich zum Untergehen. Die Arbeiter, die Frauen, alle kehrten von der Arbeit heim. Der Großvater ordnete streng an, daß seiner Frau, der jungen Mutter, nichts zu Ohren kommen dürfe. Darum sprachen alle mit gedämpfter Stimme, standen in Gruppen im Hof beieinander und besprachen sich. Die Männer waren unruhig und voll Sorge und beredeten vertraulich den Entschluß ihres Herrn, nicht Widerstand zu leisten. Die einen meinten, er habe daran nicht gut getan. Die anderen fragten, was er habe tun sollen: was für einen Entschluß hätte er fassen sollen bei dem Zustand, in dem sich seine Frau befand? Ihretwegen habe er sich so entschlossen. Darauf einigte man sich.

Die Arbeiterinnen, die all das hörten, vor allem die jungen Mädchen, Hefen hierhin und dorthin, von der einen Gruppe der Männer zur anderen. Ihre Wangen glühten, und aus ihren Augen blitzte die Erregung.

„Was wird werden? Was soll werden? Wird es hier Mord und Totschlag geben? Werden sie uns mitnehmen?“

Von Zeit zu Zeit sprang eine zum großen Tor des Hofes, warf einen Blick hinaus, beschattete mit ihrer Hand die Augen und schaute hinauf nach der Höhe der Kimindenia, während die anderen sie voll Ungeduld erwarteten. „Noch nichts?“

„Nichts.“

„Ach“, seufzten sie, aber niemand wußte zu sagen, von welcher Last sie mehr erleichtert wurden, ob mehr von der Ungeduld oder mehr von der Hoffnungslosigkeit des Wartens. Bis zuletzt eine es nicht mehr aushielt und zu weinen anfing und ausrief:

„Ach, wenn sie doch endlich kämen!... Mag geschehen, was will! Wenn sie nur kämen, damit es vorbei wäre!“

Es wurde Abend. Die Nacht senkte sich auf die Bäume, auf die Menschen und legte auf die Unruhe der Herzen noch eine neue Last: die Dunkelheit. Viele waren schon erschöpft gegangen und hatten sich in ihren Kammern hingelegt, eine Zigarette nach der andern rauchend, während die Frauen draußen saßen und wach blieben, mit offenen Augen unterm Sternenhimmel, bis in die letzten Fasern angespannt.

Es herrschte tiefe Stille. Droben auf der strengen Höhe dieser Gegend, auf den Kimindenia, dürstete ein großer Baum. Er regte langsam seine Wurzeln nach hüben und nach drüben, streckte sie aus, nach Wasser suchend, um zu trinken. Die Würmer erwachten aus ihrem tiefen Schlaf. „Was gibt es?“ fragte der eine. „Nichts“, antwortete der andere. „Der Baum hat Durst.“

Sie drehten sich auf die andere Seite und schliefen weiter. Aber da erwachte der Boden. „Was ist hier los?“ fragte er. Kaum aber sah er die Wurzeln in ihrem hoffnungslosen Kampfe, da begriff er und lächelte fürsorglich. „Ich werde dir Wasser bringen“, sagte er zum Baum. Der Boden regte sich, brachte Wasser aus der Tiefe, aus jenem geheimen Versteck, wo er es aufbewahrt hält für die schwere Stunde, und der Baum trank. Im gleichen Augenblick regte sich an der Oberfläche ein großer Stein, von der Unruhe der Erde aufgeschreckt, verlor sein Gleichgewicht und rollte ein Stück weiter.

Das geschah droben auf der Höhe, und die Kimindenia hörten es ungerührt. Ungerührt hörten sie auch, was drunten unter ihrem Dache bei den Menschen sich ereignete. „Noch nichts?“ fragten die Arbeiter von drinnen aus den Kammern, und ihre Augen waren trüb und rot. „Noch nichts!“ antworteten von draußen die Frauen. „Ach, noch nichts!“ sagten sie, und ihre Stimme zeigte an, daß sie schon an der letzten Grenze des Erwartenkönnens angelangt waren. Als, zitternd voll Erregung, eine Stimme ausrief: „Hört! Hört nur!“

Leise, ganz aus der Ferne, aber deutlich wahrnehmbar, hörte man ein seltsames Geräusch. „Ist das nicht Pferdegetrappel?“

„Doch, ja! Es sind Pferde! Sie sind es! Sie kommen! Sie kommen!“

Alle fuhren auf, kamen aus ihren Behausungen heraus. Die Erregung erreichte den Höhepunkt, wie in einer Festung kurz vor der Übergabe. Sie verständigten vorsichtig den Großvater, der gerade bei seiner Frau war, und riefen ihn heraus. „Was gibt es?“ fragte sie ihn.

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